Kritische Zeugnisse


Alfred Andersch

DAS GRAS UND DER ALTE MANN (1948)

 

"Sie sind ein religiöser Dichter. Warum verbergen Sie es?", wurde Wolfgang Borchert kurz vor seinem Tode von einem Mitarbeiter der Hamburger Zeitung "Die Welt" gefragt.  "Natürlich bin ich ein religiöser Dichter," antwortete Borchert. "Ich glaube an die Sonne, an den Walfisch, an meine Mutter und an das Gras.  Genügt das nicht? Das Gras ist nämlich nicht nur das Gras."

Allerdings, -- er hat es nie verborgen, daß das Gras mehr ist als das Gras. So erfindet er Geschichten wie diese:

"Der kleine Junge hält die Hände auf.  Ich soll die Nägel holen. Der Schmied zählt die Nägel. Drei Mann? fragt er. Vati sagt, für drei Mann.
Die Nägel fallen in die Hände. Der Schmied hat dicke breite Finger Der kleine Junge ganz dünne, die sich biegen von den großen Nägeln.
Ist der, der sagt, er ist Gottes Sohn, auch dabei?
Der kleine Junge nickt.
Sagt er immer noch, daß er Gottes Sohn ist?
Der kleine Junge nickt. Der Schmied nimmt die Nägel nochmal. Dann läßt er sie wieder in die Hände fallen. Die kleinen Hände biegen sich davon. Dann sagt der Schmied: Na ja."

Das bedeuteten Borchert also die Nägel. Und das Gras. Und eigentlich alle Dinge und Menschen. Wenn Gott aber in Person auftritt -- etwa in dem Stück "Draußen vor der Tür" --, dann ist er ein gebrechlicher, hilfloser alter Mann. "Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt Sehr finster. Und ich kann es nicht ändern, meine Kinder, ich kann es nicht ändern" Finster, finster."

Borchert kennt also einen Gott, an den keiner mehr glaubt. Aber er glaubt an das Gras und daran, daß das Gras mehr ist als Gras. Dichtet er ein Dilemma?

"Verschwommene Symbolik", sagt Emil Belzner in der "Rhein-Neckar-Zeitung".  "Primitives, schemenhaftes Theater", fügt er hinzu. "Theatralisch hoffnungslose Wiederholungen verraten äußerlich den Einfluß amerikanischer Epik, innerlich die sich immer wieder zur Gestaltung aufraffende Mattheit eines Schwerkranken."  So Gerhard Sanden in der "Welt".

Borchert hat freilich seinen Thomas Wolfe gelesen.  Gepriesen seien die Freunde, die ihm Wolfe, Faulkner, Hemingway in die Hand gaben. Hätte er das, was er zu sagen hatte, mit den Stilmitteln Wiecherts oder Carossas, Hesses oder Thomas Manns ausdrücken können? Als der Krieg ausbrach, war er 18 Jahre alt. Als er ins Gefängnis kam: 23. Als er starb: 26. Front, Kerker, Nachkriegshunger, Tod, -- man hat da keine Zeit für esoterischen Symbolismus und humanistische Bildung.

Freilich: "januareisig", "graugestaubt", "abgrundverstrickt", "schlafwandelnd", "wellenverschaukelt". Und nicht nur das. Sondern auch: "Über Dämme hinhämmernd, über Brücken gebrüllt, aus Diesigkeiten herandonnernd, in Dunkelheiten verdämmernd: summende, brummende Bahnen." Man sieht: er hat wirklich seinen Thomas Wolfe gelesen. Aber was hat er daraus für die deutsche Sprache gemacht! Vor allem, er ist viel härter als Wolfe. Knapper, konzentrierter, -- seine Beiworte sind niemals so schwelgerisch, wie manchmal bei Wolfe, sondern immer motiviert. Borchert formuliert seine Adjektive genau und folgerichtig, weil er auf das "wie" Rilkes und der Symbolisten verzichten will. So entsteht ein hämmernder Staccato-Stil, der plötzlich in großartig dynamische Passagen ausschwingen kann. Man fragt da nicht mehr, was Lyrik, was Prosa sein mag. Eine originale Sprachkraft hat genau die Vorbilder gefunden, die sie brauchte, um in Bewegung gesetzt zu werden. Und in was für eine Bewegung!  Es verschlägt einem den Atem.

Was also hat er zu sagen? Das Dilemma?  Die "verschwommene Symbolik"? Die Verzweiflung? Die Anklage? Den Nihilismus, den berühmten, schon sagenumwobenen Nihilismus der Heimkehrer? Hören wir zu:

"Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch, -- und dann stehlen wir uns davon, denn wir sind ohne Bindung, ohne Bleiben und ohne Abschied. Wir sind eine Generation ohne Abschied, die sich davonstiehlt wie Diebe, weil sie Angst hat vor dem Schrei ihres Herzens. Wie sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre, -- so sind wir eine Generation ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr.
Aber wir sind eine Generation der Ankunft. Vielleicht sind wir eine Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen. Vielleicht sind wir voller Ankunft zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott.
Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber wir wissen, daß alle Ankunft und gehört."

So also sieht das aus. Zwischen Abschied und Ankunft aber steht im Mittelpunkt der borchertschen Welt der Wanderer, der, der sucht; er ist bei ihm ein Gehetzter, einer, der von seinen Erinnerungen und der Frage nach der Schuld gejagt ist. Es ist immer derselbe: Unteroffizier Beckmann in "Draußen vor der Tür", Leutnant Fischer in "Die lange, lange Straße lang", der Mann mit dem Brot in "Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck". Lauter Leute ohne Ausweg.  Lauter Woyzecks. "Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht! Gebt doch Antwort". Das ist fast erschütternder als Büchners noch anklagendes, noch räsonnierendes Wort: "Ich glaub', wenn wir in den Himmel kämen, wir müßten donnern helfen". Bei Borchert wird nicht angeklagt, -- dieser Dichter weiß, daß niemand anzuklagen ist. Nur eines bleibt: fragen. Borcherts Werk ist eine einzige Frage, unwiederholbar und sprachmächtig gestellt, darin liegt sein geistiger Wert. Mit Büchner zusammen sitzt er im Abgrund des Determinismus, schauerlich dringt die Frage herauf, nicht zu überhören; der "Woyzeck" ist zu Ende gedichtet, es gibt keine Steigerung mehr. Kaum, daß wir damit begonnen haben, sind wir am Ende der "Heimkehrerdichtung", am Ende des "Nihilismus", am Ende der Ausweglosigkeit. Denn Borchert hat bereits für uns alle endgültig und radikal gefragt. Es nützt nichts, daß wir seine Frage wiederholen. Wir müssen uns auf den Weg machen, einen Ausweg zu finden. Es ist lächerlich, noch eine Weile zu plappern, wenn einer für das richtige Aussprechen unserer Frage sein Leben gegeben hat. Aber es ist notwendig, an ihn zu denken, wenn wir uns auf die Suche begeben.

Bleibt Borchert selbst ohne Antwort? Allein in einer Wüste, im grauen, glühenden, unendlichen Sand, oder in der eisigen Kälte eines vergletscherten Schweigens? Wie frisch ist seine Sprache, wir blühend, wie neugeboren! "Die unsägliche Einsamkeit, diese eisige männlich, leben wir dann, leben wir ohne deine tolle Vokabel, Bruder Vogel, denn das Letzte, das Letzte geben die Worte nicht her".

Nun, er, Wolfgang Borchert, hatte recht tolle Vokabeln gefunden. Sie sind es, die seine Hoffnungslosigkeit Lügen strafen.  Wußte er, daß der "alte Mann" doch einmal antworten wird?

Quelle: Frankfurter Hefte, 3. Jahrgang, Heft 1 (Januar 1948): S. 927-929


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