Heiner Müller,  "Der Vater."

Excerpt from Germania: Tod in Berlin.  Berlin: Rotbuch Verlag, 1977.


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Heiner Müller

"Der Vater" (1958)

 

Ein toter Vater wäre vielleicht
Ein besserer Vater gewesen.  Am besten
Ist ein totgeborener Vater.
Immer neu wächst Gras über die Grenze.
Das Gras muß ausgerissen werden
Wieder und wieder das über die Grenze wächst.

1
1933 am 31. Januar 4 Uhr früh wurde mein Vater, Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, aus dem Bett heraus verhaftet. Ich wachte auf, der Himmel vor dem Fenster schwarz, Lärm von Stimmen und Schritten. Nebenan wurden Bücher auf den Boden geworfen. Ich hörte die Stimme meines Vaters, heller als die fremden Stimmen. Ich stieg aus dem Bett und ging zur Tür.  Durch den Türspalt sah ich, wie ein Mann meinem Vater ins Gesicht schlug.  Frierend, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, lag ich im Bett, als die Tür zu meinem Zimmer aufging.  In der Tür stand mein Vater, hinter ihm die Fremden, groß, in braunen Uniformen.  Sie waren zu dritt.  Einer hielt mit der Hand die Tür auf.  Mein Vater hatte das Licht im Rücken, ich konnte sein Gesicht nicht sehn. Ich hörte ihn leise meinen Namen rufen. Ich antwortete nicht und lag ganz still.  Dann sagte mein Vater:  Er schläft.  Die Tür wurde geschlossen. Ich hörte, wie sie ihn wegführten, dann den kurzen Schritt meiner Mutter, die allein zurückkam.

2
Meine Freunde, Söhne eines kleinen Beamten, erklärten mir nach der Verhaftung meines Vaters, daß sie nicht mehr mit mir spielen dürften.  Es war an einem Vormittag, Schnee lag in den Straßengräben, es ging ein kalter Wind.  Ich fand meine Freunde auf dem Hof im Geräteschuppen, auf Holzklötzen sitzend.  Sie spielten mit Bleisoldaten.  Vor der Tür hatte ich gehört, wie sie Kanonendonner machten. Als ich eintrat, verstummten sie und sahen einander an.  Dann spielten sie wieder.  Sie hatten die Bleisoldaten in Schlachtreihen gegeneinander aufgestellt und rollten abwechselnd Murmeln in die gegnerische Front.  Dabei machten sie den Kanonendonner.  Sie redeten sich mit Herr General an und schrien einander triumphierend nach jedem Schuß die Verlustziffern zu.  Die Soldaten starben wie die Fliegen.  Es ging um einen Pudding.  Der eine General hatte schließlich keine Soldaten mehr, seine Armee lag vollzählig am Boden.  Damit war der Sieger ermittelt.  Die Gefallenen flogen, Freund und Feind durcheinander, zusammen mit dem einen Überlebenden, in die Pappschachtel. Die Generäle standen auf.  Sie gingen jetzt frühstücken, sagte der Sieger, und, im Vorbeigehen, ich könnte nicht mitkommen, sie dürften mit mir nicht mehr spielen, weil mein Vater ein Verbrecher sei.  Meine Mutter hatte mir gesagt, wer die Verbrecher waren. Aber auch, daß es nicht gut war, sie zu nennen.  So sagte ich es meinen Freunden nicht.  Sie erfuhren es, zwölf Jahre später, ins Feuer geschickt von großen Generälen, unter dem Donner zahlloser wirklicher Geschütze, in den schrecklichen letzten Schlachten des zweiten Weltkrieges, tötend und sterbend.

3
Ein Jahr nach der Verhaftung meines Vaters bekam meine Mutter die Erlaubnis, ihn im Lager zu besuchen.  Wir fuhren mit der Kleinbahn bis zur Endstation.  Die Straße lief in Windungen bergan, vorbei an einem Sägewerk mit dem Geruch von frischem Holz.  Auf dem flachen Bergkegel ging der Weg zum Lager ab.  Die Felder am Weg lagen brach.  Dann standen wir vor dem breiten Tor mit dem Drahtgitter, bis sie meinen Vater brachten.  Durch das Drahtgitter blickend sah ich ihn kommen, auf der Lagerstraße, die mit Schotter bedeckt war.  Er ging langsamer, je näher er kam.  Die Sträflingskleider waren ihm zu weit, so daß er sehr klein aussah.  Das Tor wurde nicht geöffnet.  Er konnte uns durch den engmaschigen Draht nicht die Hand geben. Ich mußte dicht an das Tor herantreten, um sein mageres Gesicht ganz zu sehen.  Es war sehr blaß.  Ich kann mich nicht erinnern, was gesprochen wurde.  Hinter meinem Vater stand mit rundem rosigem Gesicht der bewaffnete Posten.

Ich wünschte mein Vater wäre ein Hai gewesen
Der vierzig Walfänger zerrissen hätte
(Und ich hätte schwimmen gelernt in ihrem Blut)
Meine Mutter ein Blauwal mein Name Lautréamont
Gestorben in Paris 1871 unbekannt

4
Meine Mutter bekam, weil sie seine Frau war, keine Arbeit. So nahm sie das Angebot eines Fabrikanten an, der bis 1932 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gewesen war.  Ich durfte mittags an seinem Tisch mitessen. So stemmte ich mich jeden Mittag gegen das eiserne Tor vor dem Haus des Wohltäters, ging die breite Steintreppe hinauf in den ersten Stock, drückte zögernd auf den weißen Klingelknopf, wurde von einem Mädchen in weißer Schürze in das Eßzimmer gebracht und von der Frau des Fabrikanten an dem großen Tisch placiert, unter ein Bild, das einen Hirsch darstellte, der zusammenbrach und Hunde, die über ihn herfielen. Umgeben von den massigen Gestalten der Gastgeber aß ich ohne aufzublicken.  Sie waren freundlich zu mir, erkundigten sich nach meinem Vater, schenkten mir Süßigkeiten und erlaubten mir, ihren Hund zu streicheln:  er war dick und stark.  In der Küche essen mußte ich nur einmal, als Gäste kamen, die sich an meiner Gegenwart stießen.  Als ich mich zum letztenmal gegen das eiserne Tor stemmte, bis es, in den Angeln kreischend, nachgab, regnete es.  Ich hörte den Regen niedergehen, als ich die Steintreppe hinaufstieg.  Der Mann saß nicht mit am Tisch.  Er war zur Jagd gefahren. Es gab Kartoffelklöße mit Rindfleisch und Meerrettich.  Während ich aß hörte ich den Regen.  Das letzte Stück Kartoffelkloß fiel mir in zwei Hälften von der Gabel auf den Teppich.  Die Frau merkte es und sah mich an.  Im gleichen Augenblick hörte ich auf der Straße ein Fahrgeräusch, dann, vor dem Haus, Bremsen und einen Schrei.  Ich sah, wie die Frau an ein Fenster ging und aus dem Zimmer stürzte.  Ich lief zum Fenster.  Auf der Straße stand, neben seinem Auto, vor der Frau, die er überfahren hatte, der Fabrikant.  Als ich aus dem Zimmer in den Flur trat, wurde sie von zwei Arbeitern hereingetragen und auf den Fußboden gelegt;  ich konnte ihr Gesicht sehen, den verzerrten Mund, aus dem Blut rann.  Dann kam ein anderer Arbeiter mit der Jagdbeute, Hasen und Rebhühnern, die er ebenfalls auf den Fußboden legte, weit genug von der blutenden Frau.  Ich merkte, wie mir der Meerrettich aufstieß.  Auf der Steintreppe war Blut.  Ich hatte das eiserne Tor noch nicht erreicht, als ich mich erbrach.

5
Mein Vater wurde freigelassen, unter der Bedingung, daß er sich in seinem Wohnkreis nicht mehr blicken ließ.  Das war 1934 im Winter.  Zwei Wegstunden vor dem Dorf, auf der offenen Landstraße, die mit Schnee bedeckt war, erwarteten wir ihn. Meine Mutter hielt ein Bündel unter dem Arm, seinen Mantel. Er kam, küßte mich und die Mutter, zog den Mantel an und ging die Straße zurück durch den Schnee, gebückt, als trüge er schwer an dem Mantel.  Wir standen auf der Straße und sahen ihm nach.  In der kalten Luft konnte man weit sehen. Ich war fünf Jahre alt.