3. SZENE
(Eine Stube. Abend. Eine Tür kreischt
und schlägt zu. Der Oberst. Beckmann.)
BECKMANN: Guten Abend, Herr Oberst.
OBERST: Sie stören! Ist Ihre Angelegenheit so
wichtig?
BECKMANN: Nein. Ich wollte nur feststellen, ob ich
mich heute Nacht ersaufe oder am Leben bleibe. Und
wenn ich am Leben bleibe, dann weiß ich noch nicht,
wie. Und dann möchte ich am Tage manchmal
vielleicht etwas essen. Und nachts, nachts möchte
ich schlafen. Weiter nichts.
OBERST: Na na na na! Reden Sie mal nicht so
unmännliches Zeug. Waren doch Soldat, wie?
BECKMANN: Nein, Herr Oberst.
OBERST: Wieso nein? Sie haben doch Uniform an.
BECKMANN: (eintönig) Ja. Sechs Jahre.
Aber ich dachte immer, wenn ich zehn Jahre lang die Uniform
eines Briefträgers anhabe, deswegen bin ich noch lange
kein Briefträger. (freundlich) Ihre Fenster sehen
von draußen so warm aus. Ich wollte mal wieder
merken, wie das ist, durch solche Fenster zu sehen.
Von innen aber, von innen. Wissen Sie, wie das ist,
wenn nachts so helle warme Fenster da sind und man steht
draußen?
OBERST: Ihre Gasmaskenbrille? Warum werfen Sie den
Zimt nicht weg? Der Krieg ist aus.
BECKMANN: Ja, ja. Der ist aus. Das sagen sie
alle. Aber die Brille brauche ich noch. Ich bin
kurzsichtig, ich sehe ohne Brille alles verschwommen.
Aber so kann ich alles erkennen. Ich sehe ganz genau
von hier, was Sie auf dem Tisch haben.
OBERST: (unterbricht) Sagen Sie mal, was haben Sie
für eine merkwürdige Frisur? Haben Sie
gesessen? Was ausgefressen, wie? Na, raus mit
der Sprache, sind irgendwo eingestiegen, was? Und
geschnappt, was?
BECKMANN: Jawohl, Herr Oberst. Bin irgendwo mit
eingestiegen. In Stalingrad, Herr Oberst. Aber
die Tour ging schief, und sie haben uns gegriffen.
Drei Jahre haben wir gekriegt, alle hunderttausend
Mann. Und unser Häuptling zog sich Zivil an und
aß Kaviar. Drei Jahre Kaviar. Und wir
löffelten heißes Wasser. Drei Jahre
lang. Und uns haben die die Köpfe
abrasiert. Bis zum Hals -- oder bis zu den Haaren, das
kam nicht so genau darauf an. Die Kopfamputierten
waren noch die Glücklichsten.
OBERST: Lieber junger Freund, Sie stellen die ganze Sache
doch wohl reichlich verzerrt dar. Wir sind doch
Deutsche. Wir wollen doch lieber bei unserer guten
deutschen Wahrheit bleiben.
BECKMANN: Jawohl, Herr Oberst. Schön ist das,
Herr Oberst. Ich mach mit, mit der Wahrheit. Wir
essen uns schön satt, Herr Oberst, richtig satt, Herr
Oberst. Wir ziehen uns ein neues Hemd an und einen
Anzug mit Knöpfen und ohne Löcher. Und dann
machen wir den Ofen an, Herr Oberst, denn wir haben ja einen
Ofen, Herr Oberst, und setzen den Teekessel auf für
einen kleinen Grog. Und dann ziehen wir die Jalousien
runter und lassen uns in einen Sessel fallen. Und dann
halten wir die Wahrheit hoch, Herr Oberst, unsere gute
deutsche Wahrheit.
OBERST: (ohne Schärfe) Ich habe aber doch den
Eindruck, daß Sie einer von denen sind, denen der
Krieg die Begriffe und den Verstand verwirrt hat.
Warum sind Sie nicht Offizier geworden? Sie
hätten zu ganz anderen Kreisen Eingang gehabt.
Hätten 'ne anständige Frau gehabt, und dann
hätten Sie auch 'n anständiges Haus.
Wär'n ja ein ganz anderer Mensch. Warum sind Sie kein
Offizier geworden?
BECKMANN: Meine Stimme war zu leise, Herr Oberst, meine
Stimme war zu leise.
OBERST: Sehen Sie, Sie sind zu leise. Mal ehrlich,
einer von denen, die ein bißchen müde sind, ein
bißchen weich, wie?
BECKMANN: (ganz weit weg) Herr Oberst?
OBERST: Ich höre, ich höre.
BECKMANN: (schlaftrunken, traumhaft) Dann ist es
gut. Wenn Sie hören, Herr Oberst. Ich will
Ihnen nämlich meinen Traum erzählen, Herr
Oberst. Den Traum träume ich jede Nacht. Dann
wache ich auf, weil jemand so grauenhaft schreit. Und
wissen Sie, wer das ist, der da schreit? Ich selbst,
Herr Oberst, ich selbst. Ulkig, nicht, Herr
Oberst? Und dann kann ich nicht wieder
einschlafen. Keine Nacht, Herr Oberst. Der Traum
ist nämlich ganz seltsam, müssen SIe wissen.
Ich will ihn mal erzählen. Sie hören doch,
Herr Oberst, ja? Da steht ein Mann und spielt
Xylophon. Er spielt einen rasenden Rhythmus. Und
dabei schwitzt er, der Mann, denn er ist
außergewöhnlich fett. Und er spielt auf
einem Riesenxylophon. Und weil es so groß ist,
muß er bei jedem Schlag vor dem Xylophon hin und her
sausen. Und dabei schwitzt er, denn er ist
tatsächlich sehr fett. Aber er schwitzt gar
keinen Schweiß, er schwitzt Blut; und das Blut
läuft in zwei breiten roten Streifen an seiner Hose
runter, daß er von weitem aussieht wie ein
General. Ein fetter, blutiger General. Es
muß ein alter schlachterprobter General sein, denn er
hat beide Arme verloren. Ja er spielt mit langen,
dünnen Prothesen, die wie Handgranatenstiele aussehen,
hölzern und mit einem Metallring. Und die
Hölzer seines riesigen Xylophons sind gar nicht aus
Holz, sie sind aus Knochen, . . . aus Knochen! Ist das
nicht ein komische Musiker, dieser General?
OBERST: (unsicher) Ja, sehr komisch, sehr komisch!
BECKMANN: Ja, und nun geht es erst los. Nun
fängt der Traum erst an. Also, der General steht
vor dem Riesenxylophon aus Menschenknochen und trommelt mit
seinen Prothesen einen Marsch. Meistens spielt er
"alte Kameraden." Meistens spielt er die. Die
kennen Sie doch, Herr Oberst, die "Alten Kameraden?"
OBERST: Ja, ja. Natürlich.
BECKMANN: Und dann kommen sie. Dann ziehen sie ein,
die alten Kameraden. Dann stehen sie auf aus den
Massengräbern mit verrotteten Verbänden und
blutigen Uniformen. Und dann sagt der General mit den
Blutstreifen zu mir: Unteroffizier Beckmann, Sie
übernehmen die Verantwortung. Lassen sie
abzählen. Und dann stehe ich da, vor den
Milllionen hohlgrinsender Skelette, mit meiner
Verantwortung, und lasse abzählen. Aber die
Brüder zählen nicht. Ist das nicht Meuterei,
Herr Oberst? Offene Meuterei?
OBERST: (flüstert) Ja, offene Meuterei!
BECKMANN: Sie zählen auf Deubelkommraus nicht.
Aber sie rotten sich zusammen, die Verrotteten, und bilden
Sprechchöre. Donnernde, drohende, dumpfe
Sprechchöre. Und wissen Sie, was sie
brüllen, Herr Oberst?
OBERST: Was wollen Sie denn von mir?
BECKMANN: Ich bringe sie Ihnen zurück.
OBERST: Wen?
BECKMANN: (beinahe naiv) Die Verantwortung. Ich
bringe Ihnen die Verantwortung zurück. Haben Sie
das ganz vergessen, Herr Oberst? Den 14.
Februar? Bei Gorodok. Es waren 42 Grad
Kälte. Da kamen Sie doch in unsere Stellung, Herr
Oberst, und sagten: Unteroffizier Beckmann!
Unteroffizier Beckmann, ich übergebe Ihnen die
Verantwortung für zwanzig Mann. Sie erkunden den
Wald östlich Gorodok und machen nach Möglichkeit
ein paar Gefangene, klar? Jawohl, Herr Oberst, habe
ich da gesagt. Und dann sind wir losgezogen und haben
erkundet. Dann wurde geschossen, und als wir wieder in
der Stellung waren, da fehlten elf Mann. Und ich hatte
die Verantwortung. Ja, das ist alles, Herr Oberst.
Aber nun ist der Krieg aus, nun will ich pennen, nun gebe
ich Ihnen die Verantwortung zurück, Herr Oberst, ich
will sie nicht mehr, ich gebe sie Ihnen zurück, Herr
Oberst.
OBERST: Aber mein lieber Beckmann, Sie erregen sich
unnötig. So war das doch nicht gemeint.
BECKMANN: (ohne Erregung, aber ungeheuer ernsthaft)
Doch. Doch, Herr Oberst. So muß das
gemeint sein. Verantwortung ist doch nicht nur ein
Wort, eine chemische Formel, nach der helles Menschenfleisch
in dunkle Erde verwandelt wird. Man kann doch Menschen
nicht für ein leeres Wort sterben lassen.
Irgendwo müssen wir doch hin mit unserer
Verantwortung. Die Toten -- antworten nicht.
Gott --antwortet nicht. Aber die Lebenden, die
fragen. Es sind nur elf Frauen, Herr Oberst, bei mir
sind es nur elf. Wieviel sind es bei Ihnen, Herr
Oberst? Tausend? Zweitausend? Schlafen Sie
gut, Herr Oberst? Dann macht es Ihnen wohl nichts aus,
wenn ich Ihnen zu den zweitausend noch die Verantwortung
für meine elf dazugebe. Dann kann ich wohl nun
endlich in aller Seelenruhe pennen. Seelenruhe, das
war es, ja, Seelenruhe, Herr Oberst! Und dann:
schlafen! Mein Gott!
OBERST: (ihm bleibt doch die Luft weg. Aber dann
lacht er seine Beklemmung fort, aber nicht gehässig,
eher jovial und rauhbeinig, gutmütig, sagt sehr
unsicher) Junger Mann, junger Mann! Ich
weiß nicht recht, ich weiß nicht recht.
Sind Sie nun ein heimlicher Pazifist, wie? So ein
bißchen destruktiv, ja? Aber -- (er lacht zuerst
verlegen, dann aber siegt sein gesundes Preußentum,
und er lacht aus voller Kehle) mein Lieber, mein
Lieber! Ich glaube beinahe, Sie sind ein kleiner
Schelm, wie? Hab ich recht? Na? Sehen Sie,
Sie sind ein Schelm, was? (er lacht) Köstlich,
Mann, ganz köstlich! Sie haben wirklich den Bogen
raus! Nein, dieser abgründige Humor! Wissen
Sie (von seinem Gelächter unterbrochen), wissen Sie,
mit dem Zeug, mit der Nummer, können Sie so auf die
Bühne. Die Menschheit lacht sich, lacht sich ja
kaputt!!! Wissen Sie was? Gehen Sie runter zu
meinem Chauffeur, nehmen Sie sich warm Wasser, waschen Sie
sich, nehmen Sie sich den Bart ab. Machen Sie sich
menschlich. Und dann lassen Sie sich vom Chauffeur
einen von meinen alten Anzügen geben. Ja, das ist
mein Ernst! Schmeißen Sie Ihre zerrissenen Klamotten
weg, ziehen Sie sich einen alten Anzug von mir an, doch, das
dürfen Sie ruhig annehmen, und dann werden Sie erst mal
wieder ein Mensch, mein lieber Junge!
(Eine Tür kreischt und schlägt zu.)
BECKMANN: (wieder auf der Straße. Eine Flasche gluckert -- wird zunehmend betrunken)
Der Oberst hat recht, die Menschheit lacht sich
kaputt! Prost. Es lebe der Oberst! Der hat mir
das Leben gerettet! Heil, Herr Oberst!
Prost! Der Schnaps hat mir das Leben gerettet, mein
Verstand ist ersoffen! Prost! (großartig
und besoffen) Wer Schnaps hat oder ein Bett oder ein
Mädchen, der träume seinen letzten Traum!
Der baue sich aus seinem Traum eine Arche Noah! Wer
Schnaps hat, ist gerettet! Prost! Es lebe der
blutige Oberst! Es lebe die Verantwortung!
Heil! Ich gehe zum Zirkus! Es lebe der
Zirkus! Der ganze große Zirkus!
Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg,
der Mann. Tausend Tage Kälte, tausend Tage
Krieg. Und dann kommt er endlich nach Hause . . . und
da erlebt er einen ganz tollen Film. Er muß sich
während der Vorstellung mehrmals in den Arm kneifen,
denn er weiß nicht, ob er wacht oder träumt.
BECKMANN: Der Oberst hat recht, die Menschheit lacht sich kaputt . . . Es lebe das Gelächter über die Toten . . . Die Leute lachen sich kaputt, wenn es recht grausig hergeht, mit Blut und vielen Toten . . . Es lebe der blutige Oberst . . . Es lebe die Verantwortung. Heil! Ich gehe zum Zirkus . . . Es lebe der ganz große Zirkus!