2. SZENE
(Ein Zimmer. Abends. Eine Tür kreischt
und schlägt zu. Beckmann. Das
Mädchen.)
MÄDCHEN: So, nun will ich mir erst einmal den Fisch
unter der Lampe ansehen. Nanu -- (sie lacht) aber
sagen Sie um Himmelswillen, was soll denn dies hier
sein?
BECKMANN: Das? Das ist meine Brille.
MÄDCHEN: Das nennen Sie Brille? Ich glaube,
Sie sind mit Absicht komisch.
BECKMANN: Ja, meine Brille. Sie haben recht:
vielleicht sieht sie ein bißchen komisch aus.
Mit diesen grauen Blechrändern um das Glas. Und
dann diese grauen Bänder, die man um die Ohren machen
muß. Und dieses graue Band quer über die
Nase! Man kriegt so ein graues Uniformgesicht
davon. So ein blechernes Robotergesicht. So ein
Gasmaskengesicht. Aber es ist ja auch eine
Gasmaskenbrille.
MÄDCHEN: Gasmaskenbrille?
BECKMANN: Gasmaskenbrille. Die gab es für
Soldaten, die eine Brille trugen. Damit sie auch unter
der Gasmaske was sehen konnten.
MÄDCHEN: Aber warum laufen Sie denn jetzt nocht
damit herum? Haben Sie denn keine richtige?
BECKMANN: Nein. Gehabt, ja. Aber die ist mir
kaputt geschossen. Nein, schön ist sie nicht.
Aber ich bin froh, daß ich wenigstens diese
habe. Ohne Brille bin ich rettungslos verloren.
Wirklich, vollkommen hilflos.
MÄDCHEN: Ja? Ohne sind Sie vollkommen
hilflos? (fröhlich, nicht hart) Dann geben Sie
das abscheuliche Gebilde mal schnell her. Da -- was
sagen Sie nun! Nein, die bekommen Sie erst wieder,
wenn Sie gehen. Außerdem ist es beruhigender
für mich, wenn ich weiß, daß Sie so
vollkommen hilflos sind. Viel beruhigender. Ohne
Brille sehen Sie auch gleich ganz anders aus.
BECKMANN: Geben Sie sie wieder her. Ich sehe ja
nichts mehr. Sie selbst sind mit einmal ganz weit
weg. Ganz undeutlich.
MÄDCHEN: Wunderbar. Das ist mir gerade
recht. Und Ihnen bekommt das auch besser. Mit
der Brille sehen Sie ja aus wie ein Gespenst.
BECKMANN: Vielleicht bin ich auch ein Gespenst.
Eins von gestern, das heute keiner mehr sehen will.
Ein Gespenst aus dem Krieg, für den Frieden
provisorisch repariert.
MÄDCHEN: (herzlich, warm) Und was für ein
griesgrämiges graues Gespenst! Ich glaube, Sie
tragen innerlich auch so eine Gasmaskenbrille, Sie
behelfsmäßiger Fisch. Lassen Sie mir die
Brille. Es ist ganz gut, wenn Sie mal einen Abend
alles ein bißchen verschwommen sehen. Passen
Ihnen denn wenigstens die Hosen? Na, es geht
gerade. Da, nehmen Sie mal die Jacke.
BECKMANN: Oha, erst ziehen SIe mich aus dem Wasser, und
dann lassen Sie mich gleich wieder ersaufen. Das ist
ja eine Jacke für einen Athleten. Welchem Reisen
haben Sie die denn gestohlen?
MÄDCHEN: Der Riese ist mein Mann. War mein
Mann.
BECKMANN: Ihr Mann?
MÄDCHEN: Ja. Dachten Sie, ich handele mit
Männerkleidung?
BECKMANN: Wo ist er? Ihr Mann?
MÄDCHEN: (bitter, leise) Verhungert, erfroren,
liegengeblieben -- was weiß ich. Seit Stalingrad
ist er vermißt. Das war vor drei Jahren.
BECKMANN: (starr) In Stalingrad? In Stalingfrad,
ja. Der Mann, der Ihr Mann war, der der Riese war, dem
dieses Zeug gehört, der ist liegengeblieben. Und
ich, ich komme nun her und ziehe sein Zeug an. Ist das
nicht schön? Und seine Jacke ist so riesig,
daß ich fast darin ersaufe. (hastig) Ich
muß sie wieder ausziehen. Doch. Ich
muß wieder mein nasses Zeug anziehen. Ich komme
um in dieser Jacke. Ich bin ja ein Witz in dieser
Jacke. Ein grauenhafter, gemeiner Witz, den der Krieg
gemacht hat.
MÄDCHEN: (warm, verzweifelt) Sei still, Fisch.
Behalt sie an, bitte. Du gefällst mir so,
Fisch. Trotz deiner komischen Borstenfrisur. Die
hast du wohl auch aus Rußland mitgebracht, ja?
BECKMANN: (ganz abwesend) Mich bedrückt das.
Ich ersaufe. Das kommt, weil ich so schlecht
sehe. Ganz und gar nebelig. Aber es erwürgt
mich.
MÄDCHEN: (ängstlich) Was has du? Du, was
hast du denn?
BECKMANN: (mit wachsender Angst) Ich werde jetzt ganz
sachte verrückt. Gib mir meine Brille.
Schnell. Das kommt alles nur, weil es so nebelig vor
meinen Augen ist. Da! Ich habe das Gefühl,
daß hinter deinen Rücken ein Mann steht!
Die ganze Zeit schon. Ein großer Mann. Ein
Riese, und der Riese hat nur ein Bein. Er kommt immer
näher, mit einem Bein und zwei Krücken.
Hörst du -- teck tock. Teck tock. So machen
die Krücken. Jetzt steht er hinter dir.
Fühlst du sein Luftholen im Nacken?
MÄDCHEN: (schreit auf und stürzt davon.
Eine Tür kreischt und schlägt zu. Dann
kört man ganz laut das "teck tock" der
Krücken.)
EINBINIGER: (monoton) Was tust du hier. Du in
meinem Zeug? Auf meinem Platz? Bei meiner Frau?
BECKMANN: (wie gelähmt) Dein Zeug? Dein
Platz? Deine Frau?
EINBEINIGER: (immer ganz monoton und apathisch) Und du,
was du hier tust?
BECKMANN: (stockend, leise) Das hab ich gestern nacht
auch den Mann gefragt, der bei meiner Frau war. In
meinem Hemd war. In meinem Bett. Was tust du
hier, du? hab ich gefragt. Da hat er die Schultern
hochgehoben und wieder fallen lassen und hat gesagt: Ja, was
tu ich hier. Das hat er geantwortet. Da habe ich
die Schlafzimmertuur wieder zugemacht, nein, erst noch das
Licht wieder ausgemacht. Und dann stand ich
draußen.
EINBEINIGER: Komm mit deinem Gesicht unter die
Lampe. Ganz nah. (dumpf) Beckmann!
BECKMANN: Ja. Ich. Beckmann. Ich
dachte, du würdest mich nicht mehr erkennen.
EINBEINIGER: (leise, aber mit ungeheuerem Vorwurf)
Beckmann . . . Beckmann . . . Beckmann!!!
BECKMANN: (gefoltert) Hör auf, du. Sag den
Namen nicht! Ich will diesen Namen nicht mehr
haben! Hör auf, du!
EINBEINIGER: (leiert) Beckmann, Beckmann.
BECKMANN: (schreit auf) Das bin ich nicht! Das will
ich nicht mehr sein. Ich will nicht mehr Beckmann
sein!
(Er läuft hinaus. Eine Tür kreischt und
schlägt zu. Dann hört man den Wind und einen
Menschen durch die stillen Straßen laufen.)
DER ANDERE: Halt! Beckmann!
BECKMANN: Wer ist da?
DER ANDERE: Ich. Der Andere.
BECKMANN: Bist du schon wieder da?
DER ANDERE: Immer noch, Beckmann. Immer,
Beckmann.
BECKMANN: Was willst du? Laß mich vorbei.
DER ANDERE: Nein, Beckmann. Dieser Weg geht an die
Elbe. Komm, die Straße ist hier oben.
BECKMANN: Laß mich vorbei. Ich will zur
Elbe.
DER ANDERE: Nein, Beckmann. Komm. Du willst
diese Straße hier weitergehen.
BECKMANN: Die Straße weitergehen! Leben soll
ich? Ich soll weitergehen? Soll essen, schlafen,
alles?
DER ANDERE: Komm, Beckmann.
BECKMANN: (mehr apathisch als erregt) Sag diesen Namen
nicht. Ich will nicht mehr Beckmann sein.
Unablässig Beckmann! Andauernd Beckmann! Und er
sagt das, als ob er Grab sagt. Als ob er Mord sagt,
oder Hund sagt. Der meinen Namen sagt wie:
Weltuntergang! Dumpf, drohend, verzweifelt. Und
du sagst, ich soll weiterleben?
DER ANDERE: Komm, Beckmann. Wir wollen die
Straße weitergehen. Wir wollen einen Mann
besuchen. Und dem gibst du sie zurück.
BECKMANN: Was?
DER ANDERE: Die Verantwortung.