Ein Mann kommt nach Deutschland. -- Und da erlebt
er einen ganz tollen Film. Er muß sich
während der Vorstellung mehrmals in den Arm kneifen,
denn er weiß nicht, ob er wacht oder
träumt. Ja, und als der dann am Schluß mit
leerem Magen und kalten Füßen wider auf der
Straße steht, merkt er, daß es eigentlich nur
ein ganz alltäglicher Film war: Von einem Mann, der
nach Deutschland kommt. Einer von denen, die nach
Hause kommen und die doch nicht nach Hause kommen, weil
für sie kein Zuhause mehr da ist. Ihr Zuhause ist
dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland
ist draußen, nachts im Regen, auf der
Straße. Das ist ihr Deutschland.
(Abend. Blankenese. Man hört den Wind
und das Wasser. Beckmann. Der Andere.)
BECKMANN: Wer ist da? Mitten in der Nacht.
Hier am Wasser. Hallo! Wer ist denn da?
DER ANDERE: Ich.
BECKMANN: Und wer ist das: Ich?
DER ANDERE: Ich bin der Andere.
BECKMANN: Der Andere? Welcher Andere?
DER ANDERE: Der von gestern. Der von Früher.
Der Andere von Immer. Der Antworter.
BECKMANN: Der von Früher?
DER ANDERE: Der auch. Und auch der von heute
abend. Ich bin auch der Andere von morgen.
BECKMANN: Morgen. Morgen gibt es nicht.
Morgen ist ohne dich. Hau ab. Du hast kein
Gesicht.
DER ANDERE: Du wirst mich nicht los. Ich bin der
Andere, der immer da ist: Morgen. An den
Nachmittagen. Im Bett. Nachts.
BECKMANN: Hau ab. Ich hab kein Bett. Ich lieg
hier im Dreck.
DER ANDERE: Ich bin auch der vom Dreck. Ich bin
immer. Du wirst mich nicht los.
BECKMANN: Du hast kein Gesicht. Geh weg.
DER ANDERE: Du wirst mich nicht los. Ich bin der
Andere, der immer da ist. Der lacht, wenn du
weinst. Der antreibt, wenn du müde wirst.
Ich bin der, der glaubt, der liebt! Ich bin der, der
weitermarschiert, auch wenn gehumpelt wird. Und der Ja
sagt, wenn du Nein sagst, der Jasager bin ich. . . .
BECKMANN: Geh weg. Ich will dich nicht. Ich
sage Nein. Nein. Hörst du?
DER ANDERE: Ich höre. Deswegen bleibe ich ja
hier. Wer bist du denn, du Neinsager?
BECKMANN: Ich heiße Beckmann.
DER ANDERE: Vornamen hast du wohl nicht, Neinsager?
BECKMANN: Nein. Seit gestern. Seit gestern
heiße ich nur noch Beckmann. Einfach
Beckmann. So wie der Tisch Tisch heißt.
DER ANDERE: Wer sagt Tisch zu dir?
BECKMANN: Meine Frau. Nein, die, die meine Frau
war. Ich war nämlich drei Jahre lang weg.
Im Krieg. Und gestern kam ich wieder nach Hause.
Das war das Unglück. Drei Jahre sind viel,
weißt du. Beckmann -- sagte meine Frau zu
mir. Einfach nur Beckmann. Und dabei war man
drei Jahre weg. Beckmann sagte sie, wie man zu einem
Tisch Tisch dagt. Möbelstück Beckmann.
Siehst du, deswegen habe ich keinen Vornamen mehr, verstehst
du.
DER ANDERE: Und warum liegst du hier nun im Sand?
Mitten in der Nacht. Hier am Wasser?
BECKMANN: Weil ich nicht nochkomme. Ich hab mir
nämlich ein steifes Bein mitgebracht. So als
Andenken.
DER ANDERE: Und deswegen liegst du hier abends am
Wasser?
BECKMANN: Ich bin gefallen.
DER ANDERE: Ins Wasser?
BECKMANN: Nein, nein! Ich wollte mich reinfallen
lassen. Mit Absicht. Ich konnte es nicht mehr
aushalten. Dieses Gehumpel und Gehinke. Und dann die
Sache mit der Frau, die meine Frau war. Und irgendwo
darunter liegt mein Junge. Er war gerade ein Jahr alt,
und ich hatte ihn noch nicht gesehen. Aber jetzt sehe
ich ihn jede Nacht. Und da wollte ich mich fallen
lassen, vom Ponton runter. Plumps. Aus.
Vorbei.
DER ANDERE: Du hast geträumt. Du liegst doch
hier auf dem Sand.
BECKMANN: Geträumt? Ja. Vor Hunger
geträumt. Ich habe geträumt, sie hätte
mich wieder ausgespuckt, die Elbe, diese alte . . . Das
Leben ist schön, hat sie gemeint, diese verdammte alte
-- ja, das hab ich vor Hunger geträumt. Was
ist?
DER ANDERE: Kommt einer. Ein Mädchen.
Da. Da hast du sie schon.
MÄDCHEN: Ist da jemand? Da hat doch eben
jemand gesprochen. Hallo, ist da jemand
BECKMANN: Ja, hier liegt einer. Hier unten am
Wasser.
MÄDCHEN: Aber warum denn? Stehen Sie doch
auf. Ich dachte erst, da läge ein Toter, als ich
den dunklen Haufen hier am Wasser sah. Hier liegen
nämlich jetzt oft Tote abends am Wasser. Deswegen
war ich so erschrocken. Aber Gott sei Dank, Sie sind
ja noch lebendig. Aber Sie müssen ja durch und
durch naß sein.
BECKMANN: Bin ich auch. Naß und kalt wie eine
richtige Leiche.
MÄDCHEN: Dann stehen Sie doch eindlich auf.
Oder haben Sie sich verletzt?
BECKMANN: Das auch. Mir haben sie die Kniescheibe
gestohlen. In Rußland. Und nun muß
ich mit einem steifen Bein durch das Leben hinken. Und
ich denke immer, es geht rückwärts statt
vorwärts. Von Hochkommen kann gar keine Rede
sein.
MÄDCHEN: Dann kommen Sie doch. Ich helfe
Ihnen. Sehen Sie, jetzt geht es sogar aufwärts.
Sie sind ja naß und eiskalt. Wenn ich
nicht vorbeigekommen wäre, wären Sie sicher bald
ein Fisch geworden. Stumm sind Sie ja beinahe.
Ich wohne hier gleich. Und ich habe trockenes Zeug im
Hause. Oder sind Sie zu stolz, sich von mir
trockenlegen zu lassen? SIe stummer nasser Fisch,
Sie!
BECKMANN: Sie wollen mich mitnehmen?
MÄDCHEN: Ja, wenn Sie wollen. Aber nur weil
Sie naß sind. Hoffentlich sind Sie sehr
häßlich und bescheiden, damit ich es nicht
bereuen muß, daß ich Sie mitnehme. Ich
nehme Sie nur mit, weil Sie so naß und kalt sind,
verstanden! Und weil --
BECKMANN: Weil? Was für ein Weil? Nein,
nur weil ich naß und kalt bin. Sonst gibt es
kein Weil.
MÄDCHEN: Doch. Gibt es doch. Weil Sie so
eine hoffnungslose traurige Stimme haben. So grau und
vollkommen trostlos. Ach, Unsinn ist das, wie?
Kommen Sie, Sie stummer nasser Fisch.
BECKMANN: Halt! Sie laufen mir ja weg. Mein
Bein kommt nicht mit. Langsam.
MÄDCHEN: Ach ja. Also: Dann langsam. Wie
zwei uralte steinalte naßkalte Fische.
DER ANDERE: Weg sind sie. So sind sie, die
Zweibeiner. Ganz sonderbare Leute sind das hier auf
der Welt. Erst lassen sie sich ins Wasser fallen und
sind ganz wild auf das Sterben versessen. Aber dann
kommt zufällig so ein anderer Zweibeiner im Dunkeln
vorbei, so einer mit Rock, mit einem Busen und langen
Locken. Und dann ist das Leben plötzlich wieder
ganz herrlich und süß. Dann will kein
Mensch mehr sterben. Sogar die Wasserleichen
nicht.