"Computer ohne 'Zeitgefühl'"

by Thomas Worm
Source:
 Süddeutsche Zeitung, 72 (27-28 March 1997): II


 Click on the thumbnail image to view a scan of the original text.


Computer ohne "Zeitgefühl"

Fragen der Umstellung von Software für das Jahr 2000

     "Jahr 2000 oder 1900?" würden unzählige Computerprogramme am Tag der Jahrtausendwende fragen -- wenn sie fragen könnten.  Denn das zweiziffrige Datumsfeld für die Jahreszahl, mit dem überall auf der Welt noch Milliarden Softwareprogramme arbeiten, wird dann nur eine fragwürdige Doppelnull anzeigen.  Das Jahr 2000 -- Nadelöhr für Computer, in dem die ihr Zeitgedächtnis verlieren? Seit längerem warnen Experten vor einem Chaos, das die Rechner dann ereilen würde.  Vergangene Woche diskutierten sie auf einer Tagung in Berlin Strategien, die betroffene Software umzustellen.

Das 00-Problem
     Am eigenen PC läßt sich die Probe aufs Exempel machen:  die Kalenderuhr auf den 31.12.99 um 23 Uhr 57 vorstellen, den Rechner ausschalten, fünf Minuten warten und wieder einschalten. Ist es nun für den Computer Samstag, der 1 Januar 2000?  Wenn nicht, hat das häusliche Elektronenhirn ein 00-Problem.  So jedenfalls heißt in den USA jene Programmiersünde, die vor allem während der 60er und 70er Jahre bei frühen Computersprachen wie COBOL, oder Assembler begangen wurde.  Um Speicherplatz zu sparen und die Zahl der nötigen Anschläge zu verringern, erhielt das Jahresdatum lediglich zwei Stellen, also zum Beispiel 71 für 1971.  Niemand wollte damals glauben, daß die Software 2000 miterleben könnte.
     Ob Arbeitslosengeld oder Zinserträge, ob Kreditraten oder Versicherungsprämien -- elektronische Abbuchungen basieren auf einem Vergleich von Jahreszahlen.  Wird ein winziges Datumsfeld also den Kollaps provozieren?  Seit das 00-Problem zu Beginn der 90er ins Bewußtsein rückte, vergrößert sich die "Datumsgeisel" gewissermaßen von Jahr zu Jahr.  Zumindest, was die weltweiten Umstellungskosten der Software betrifft.  Das amerikanische Technologieinstitut Ken Ort schätzt sie auf 500 Milliarden Dollar, sogar von einer bis zwei Billionen Dollar ist zuweilen die Rede.
     Diese phantastischen Summen haben einen wahrhaften Millenium-Boom ausgelöst.  Rund um den Erdball bieten mittlerweile Hunderte von Firmen, die sich auf die Erneuerung von Rechnerprogrammen spezialisiert haben, ihre "Y2K"-Dienste an (Year 2 Kilo = Jahr 2000).  So sind etwa bei IBM und Siemens spezielle Kompetenzzentren entstanden.  Sogar Versicherungen offerieren Policen, um Firmen gegen das mögliche Computerchaos am Neujahrsmorgen 2000 zu schützen.
     Der Renovierungsaufwand vom Betriebssystem bis zum Anwenderprogramm ist in der Tat beträchtlich.  Immerhin braucht ein Software-Spezialist rund ein Jahr, um 100 000 Programmzeilen lauffähig zu machen.  Beim Softwarebestand eines mittelständischen Unternehmens summiert sich das notwendige Arbeitspensum leicht auf 20 "Mannjahre."
     Die fraglichen Datumsfelder lassen sich wegen der "Verwilderung durch Vernetzung" schwer aufspüren, berichtet Informatiker Ingo Claßen vom Berliner Fraunhofer Institut Software- und Systemtechnik, das die Berliner Tagung organisierte.  Statt unzulängliche Systeme auszurangieren, setzen Programmierer häufig auf den Anbau von "Erkern," selbst geschriebene Ergänzungsprogramme für den Betriebsgebrauch.  Die so entstandene Vernetzung alter und neuer Software ist aber in vielen Fällen nirgendwo dokumentiert.  Deshalb können im unübersichtlichen Gestrüpp Tausender Programme die Jahr-2000-Rechenfehler in einer Art Dominoeffekt durchs gesamte System wandern.

Der 13. Monat
     Um der Datumsfelder habhaft zu werden, bieten Consultingfirmen elektronische Werkzeuge -- zum Beispiel die Hamburger Partner Consult das Produkt "Relino."  Sie arbeiten ähnlich wie Suchprogramme, die das Internet eigenständig nach bestimmten Stichwörtern durchforsten.  Die Suche ist nicht ohne Tücken, da mehr als 30 verschiedene Datumsformate denkbar sind -- je nachdem wie Tage, Monate und Jahre angeordnet sind.  Überdies müssen auch die Back-up-Systeme eine Fitneßkur fürs Jahr 2000 verpaßt bekommen. Sonst droht beim Wiederaufladen eines abgestürzten Computersystems der alte Zustand.
     Bisher hilft noch Improvisationskunst über die Runden.  "Egal was die Programmierer anfangs behaupten, bei Daimler Benz erwies sich zunächst kein einziges Programm als Jahr-2000-gängig," berichtet Josef Kisting von der Beraterfirma Debis.  Der Mercedes-Konzern, der mittlerweile systematisch seine Softward umstellt, behalf sich vorübergehend mit Tricks:  Lag das Auslieferungsdatum für eine Limosine jenseits der magischen 2000, wurde für den Computer kurzerhand ein 13. Monat ersonnen.  Den Kunden, der am 3. Januar 2000 seinen silbernen Metallic-Kombi in Empfang nehmen will, merkt sich der Rechner unter dem Datum 03.13.99.
     Auch wenn das 00-Problem inzwischen überall angegangen wird, könnte die Hälfte aller kommerziellen Software-Nutzer weltweit mit der rechtzeitigen Umstellung scheitern, vermutet der internationale Unternehmensberater Gartner Group.  "Eine durchaus realistische Größenordnung," bestätigt Franz Lehner vom Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Regensburg, der zur Zeit einen Internet-Service zum Thema aufbaut (http://www-wi.uni-regensburg.de/-re-search/).

Auswechseln statt Flicken
     Deutsche Betriebe buchen bereits für die Umstellung preiswerte Programmierzeit in Rumänien oder Indien.  Doch selbst wenn es einem Unternehmen gelingt, das Buchungssystem lückenlos umzustellen -- was bringt das, wenn 20 oder 30 Prozent seiner Zulieferer und Abnehmer ihre Termine wegen Softwarefehlern nicht einhalten können?
     "Eine große Herausforderung wird das plötzliche Auftreten und Bewältigen vieler Fehler sein," sagt Softwarespezialist Zsolt Öry von Siemens-Nixdorf.  Ein Unternehmen oder eine Behörde, die 10 000 Programme benötigt, müßte jede Woche 100 davon überarbeiten, wenn sie noch vor dem Millenniumswechsel das Jahr 1999 zum Testlauf nutzen will.  Und nur der entscheidet letztlich darüber, ob die Datumsanpassung erfolgreich war.  Diese ist also weniger ein technisches als ein Management-Problem.
     Die strategische Frage, so die einhellige Meinung auf der Berliner Konferenz, wird deshalb für alle Anwender von komplexer Software lauten:  Brauche ich die Programme noch?  Bei Überarbeitungskosten von einer Mark pro Programmzeile, eine IBM-Schätzung, die auch Florian Bünte von Partner Consult bestätigt, lohnt es sich womöglich, neue Software anzuschaffen.

-Thomas Worm